Von wem reden wir, wenn wir von Martin Luther reden?

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Von wem reden wir, wenn wir von Martin Luther reden?

Man konnte sich schon vor dem 31. Oktober des vergangenen Jahres im Luther-Jubiläumsjahr wähnen angesichts der Bücherflut, unzähliger Konzerte und Ausstellungen sowie der Devotionalienvielfalt: Luther als Comic, sein Konterfei auf Wollsocken, das Cranach-Porträt auf Tellern, Tassen und Postern, die Lutherrose als Goldmünze und eine nachträglich korrigierte Playmobilfigur, die in der ersten Version zu Missverständnissen Anlass bot. Neuerdings gibt es auch ein Luther-Musical zum Mitsingen. Die Luther-Festspiele sind in vollem Gange und haben als Referenzdatum – wie Jahrhunderte zuvor – das mittlerweile angezweifelte Ereignis an der Schlosskirche zu Wittenberg. Im Lichte einiger Luther-Darstellungen drängt sich allerdings die Frage auf, ob nicht im Zeitalter des Nonkonformismus und eines grassierenden Narzissmus das Konzil in Worms 1521 als Jubiläumsjahr ein besserer Andockungspunkt zur Gegenwart wäre. Mit dem ihm in den Mund gelegten Diktum der Alternativlosigkeit anlässlich des Showdowns mit Karl V. („Hier stehe ich, ich kann nicht anders“) erscheint Luther verblüffend aktuell und passt vermeintlich in unsere Zeit.

Was gibt es zu feiern?

Aus Kreisen der Kirchenhistoriker kommt genau dazu Widerspruch: der kulturwissenschaftliche Zugang zu Luther verstelle den Blick dafür, dass es in erster Linie um Theologie gehe. Man mache es sich zu einfach, den Reformator nach dem Maßstab gegenwärtiger Wertvorstellungen darzustellen, denn die Voraussetzungen, aus denen Luther kam, seien uns heute fremd geworden. Wer bei Luthers Lehre von der Rechtfertigung das Jüngste Gericht nicht mitdenken könne, verstünde sein innerstes Anliegen nicht und damit auch nicht die Impulse der reformatorischen Bewegung, so Volker Leppin, Professor für Kirchengeschichte in Freiburg. Beigepflichtet wird ihm darin – nicht ganz überraschend -von katholischer Seite. Walter Kardinal Kasper, ehemals römischer Ökumene-Chef findet, dass gerade in der Fremdheit Luthers und seiner Botschaft seine ökumenische Aktualität liege; man solle ihn nicht wegen der besseren Jubiläumsgängigkeit zum Bahnbrecher der Geistesfreiheit und Bannerträger der Neuzeit stilisieren. Wie versteht man diesen Mann in seinem Wollen und Wirken richtig, dem so viele Etiketten angeheftet werden: Reformator und Rebell, Seelsorger und Sprachschöpfer, Antisemit und Raubein, grobianisches Genie und früher Wutbürger, Ketzer, Kirchen- und Kapitalismuskritiker, aber auch Fürstenknecht. Die einen wollen ihn für die Neuzeit retten, die anderen sehen in ihm – u. a. aufgrund seiner mystischen Wurzeln – einen Mann des Mittelalters. Die Liste der Zuschreibungen ist lang und lässt die jeweilige Inanspruchnahme erahnen. Abgesehen von der strittigen Epochenfrage – wann begann die Neuzeit, wie definiert man das Mittelalter – steht die Frage im Raum, was eigentlich gefeiert werden soll.

Was erlauben EKD?

Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) möchte das Lutherjahr ökumenisch und international begehen, hat das Motto „versöhnen statt spalten“ vorangestellt sowie die Kritik an jeglicher Form von Intoleranz ; das Unterschiedliche soll nicht trennen, was mit vielen Gesten unterstrichen wird, wie der erstmaligen Verleihung der Martin-Luther-Medaille an einen Katholiken, den Kardinal Karl Lehmann. Man will ein Christusfest feiern und – darin dem Reformator nacheifernd – neu auf Christus hinweisen. Doch die Re-Formulierung von Luthers religiösen Botschaften und Bekenntnissen für die Gegenwart gelingt nicht überzeugend, zu kurzschlüssig der Versuch der Reformationsbotschafterin Margot Käßmann, Luthers Freiheitbegriff eine Vorreiterrolle für die Aufklärung zuzuschreiben. Die Autorin einer fulminanten Luther-Biographie, Lyndal Roper, widerspricht gar vehement: Was Luther unter `Freiheit` und `Gewissen` verstand, entspreche nicht dem, was wir heute darunter verstünden, er sei keineswegs `modern` gewesen. Roper will seine Theologie verstehen, indem sie den Menschen Luther in seinem sozialen und kulturellen Kontext betrachtet, der ihn geformt hat. Er müsse durch seine lebhaften Freund- und Feindschaften verstanden werden und nicht als der einsame Held, als der ihn der Mythos der Reformation präsentiert. Der „eigenbrötlerische Denker“ habe schließlich nicht nur die katholische Kirche gespalten, sondern auch die Reformation, mit seinem Beharren auf der Realpräsenz Christi im Sakrament des Abendmahls.

Eine Gestalt des 16. Jahrhunderts

Auch der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann mahnt die konsequente Historisierung Luthers an, indem er fordert, ihn als Gestalt des 16. Jahrhunderts verstehbar zu machen. Er kritisiert, dass die EKD in ihrer programmatischen Jubiläumsschrift („Rechtfertigung und Freiheit“) die Reformation als religiöses Ereignis isoliert vom allgemeingeschichtlichen Zusammenhang präsentiere. Das „Religiöse“ sei aber seinerzeit auf das Engste mit dem „Politischen“, dem „Sozialen“, „Ökonomischen“ und „Rechtlichen“ verzahnt gewesen; erst die Aufklärung habe die funktionale Differenzierung herbeigeführt. Wenn dagegen aufgezeigt werde, wie die Dynamik der Reformation die Partizipation der Menschen an ihrem Gemeinwesen beförderte, sei der säkularen Gesellschaft von heute besser aufzuzeigen, dass und wie ihre Existenz mit den reformatorischen Ereignissen zusammenhänge. Eine monokausal religiöse Argumentation könne dies nicht leisten. Es sei nicht das evangelische Verständnis des Christentums gewesen, dass die Welt verändert habe, wie die EKD suggeriere – mit dem Subtext: was einmal möglich war, kann wieder gelingen.

Ein amtskirchlich entschärfter Jubilar hat fertig

Auch wenn die Vertreter der EKD selbst auf die dunklen Seiten des „schwierigen Helden“ (Roper) hinweisen, der Spagat zwischen dem Hasstiraden gegen Bauern, Juden, Papisten und viele andere schleudernde Jubilar und der evangelischen Toleranzoffensive will nicht recht gelingen. Die zahmste Kritik daran lautet, dass man einen eigenartig profillosen und allzu glatten Reformator präsentiere und das Reformationsjubiläum bislang seltsam inhaltsleer bleibe. Dagegen nimmt der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube kein Blatt vor den Mund und bezichtigt die evangelische Kirche der „Produktpiraterie“: die eigene Gesinnung sei von Luthers Ideengut und Temperament so weit entfernt wie nur irgend denkbar. Die Litanei der Wertbekräftigung (Demut, Sanftheit, Erbarmen, Freundlichkeit, Geduld) in den Mitteilungen des evangelischen Führungspersonals habe nichts mit dem „wütenden Berserker“ (Willi Winkler) zu tun, der gute Gründe für seine Intoleranz gegen eine Kirche zu haben glaubte, die „Trost gegen Gebühr“ versprach. Weil das Markeninteresse überwiege, stelle man sich den Zumutungen seiner Biographie und Theologie nicht, da sie zu groß seien, um sich dem Abgrund zu stellen, der unsere Zeit von ihm trennt. Nur zur Rettung des Seelenheils, nicht aber aus Weltfrömmigkeit oder Friedfertigkeit, habe Luther einer paradoxen Konfession den Weg gebahnt, die aus religiösen Gründen Säkularisierung bejaht.

Zivilisierung der Religion

Kaube nimmt hier Bezug auf die luthersche Lehre von den zwei Reichen (dem weltlichen und dem Reich Gottes) und der damit gelieferten „religiösen Begründung für die Souveränität des modernen Staates“ (Norbert Bolz). Die weltliche Gewalt hat nicht zum Glauben zu erziehen, sondern den äußeren Frieden zu sichern. Wenn man will, kann man die Aktualität Luthers auch in seinem Kampf gegen jede Form von religiöser Politik sehen. Der Kirchenhistoriker Kaufmann sieht den „Königsweg der Moderne“ im Umgang mit der Religion in deren „Zivilisierung mit den Mitteln des staatlichen Rechts“. Kein Theologe des 16.Jahrunderts habe diese Option nachdrücklicher verfochten als Luther. Dafür könne man ihn feiern, ebenso wie den genialen Publizisten, virtuosen Sprachkünstler und Kämpfer für Glaubensfreiheit, der er auch gewesen sei. Und was bleibt von seiner theologischen Botschaft? Was sind die „Zumutungen seiner Theologie“ vor der die Kirchenoberen vermeintlich zurückschrecken?

Zurück zu Luther!

Norbert Bolz möchte mit seiner Veröffentlichung „Zurück zu Luther“ den Reformator gegen einen „sentimentalen Humanitarismus unserer Zeit“ in Stellung bringen und findet sich damit in Übereinstimmung mit dem Theologen Paul Tillich, der als “lutherisch“ die Ablehnung jeder sozialen Utopie kennzeichnete. Bolz will die religiöse Kernbotschaft Luthers verständlich präsentieren, nach der Leiden, Tod und Kreuz im Zentrum des Christentums stehen. Die evangelische Kirche ersetze den Skandal des Gekreuzigten zunehmend durch einen neutralen Kult der Menschheit. Sie habe Angst vor den eigenen Dogmen, vor der Orthodoxie, die aber nichts anderes bedeute als: der richtige Glaube. Die großen Themen wie Kreuz, Erlösung und Gnade habe der Protestantismus aufgegeben und durch einen diffusen Humanismus ersetzt. „Zivilreligion“ nennt Bolz diese „Schwundstufe eines Christentums, das nicht mehr in seinem Wahrheitsanspruch, sondern nur noch in seiner ethisch und politisch stabilisierenden Funktion wahrgenommen wird.“ Gerade weil sie so modern und `aufgeklärt` sei, könne die evangelische Kirche nicht mehr das Heil versprechen und eine neue Welt prophezeien. Die „Wohlfühlchristen“ wollten zwar von der Weihnachtsgeschichte hören, nicht aber vom Karfreitag, die esoterischen Christen glaubten nur an den Karfreitag, wollten aber nichts von Ostern wissen, „der Glaubensabsurdität der Auferstehung“. Das moderne Individuum habe in den letzten 500 Jahren den Weg vom Seelenheil zum Sozialheil zurückgelegt, so Bolz, und beschreibt, wie die Suche nach dem Heil im eigenen Selbst skurrile Formen annehme. In diesem Zusammenhang erwähnt er die durch Luther verabreichte große narzisstische Kränkung, dass der Mensch eben nicht der Mittelpunkt der Schöpfung sei. Von dieser falschen Selbstsicherheit befreie nur das Sündenbewusstsein und die Zentrierung auf Gott, statt auf sich selbst. Wer einen Glauben für Erwachsene suche, müsse daher zurück zu Luther.

Literatur:
Lyndal Roper, Der Mensch Martin Luther, S Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016
Norbert Bolz, Zurück zu Luther, Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2016
Willi Winkler, Luther – ein deutscher Rebell, Rowohlt-Verlag, Berlin 2016

Red.: LLL/Bernd Eckhardt
Foto: pixabay

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Bernd Eckhardt

Bernd Eckhardt

Leiter Fachbereich Sprachen an der VHS Frankfurt bei VHS Frankfurt
Sprachexperte
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