Interview mit Barbara Çakir-Wahl

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Barbara Çakir-WahlBarbara Çakir-Wahl, 1950 geboren, leitet seit 2006 die Frankfurter Volkshochschule. Ihre Kindheit und Jugendzeit hat sie in Norddeutschland verbracht, was ihre hohe Affinität zu Meereslandschaften erklärt. An den Universitäten in Kiel und Frankfurt studierte sie Erwachsenenbildung in einer Zeit, in der politische Bewegungen nicht nur die Studierenden prägten. 1976 schloss sie das Studium als Diplompädagogin ab und begann kurz darauf an der VHS Frankfurt in unterschiedlichen Kursen zu unterrichten. Fasziniert vom Grundgedanken der Volkshochschule, „Lebenslanges Lernen für alle“ zu ermöglichen, vollzog sich ihr weiterer Berufsweg an dieser Institution, einer der größten Volkshochschulen in Deutschland, wo sie ab den 1990er Jahren mehrere Fachbereiche geleitet und bundesweit beachtete Projekte durchgeführt hat. Sie ist seit 2007 Mitglied im Vorstand des Hessischen Volkshochschulverbandes und seit 2008 Mitglied im Beirat für Weiterbildung des Deutschen Volkshochschulverbandes.
LLL: Frau Çakir-Wahl, Sie haben sich in Ihrem Berufsleben für den Bildungsbereich entschieden – haben Sie bestimmte Vorbilder?

Barbara Çakir-Wahl: Vorbilder im eigentlichen Sinne habe ich nicht. Aber es gibt immer wieder Menschen, die mich besonders beeindrucken, aktuell etwa die sechzehnjährige Pakistanerin Malala Yousafzai mit ihrer Forderung nach Bildung für alle, insbesondere für Mädchen. Sie sprach kürzlich darüber vor der UNO.

Wie stehen Sie zu dem Thema „Lebenslanges Lernen”?
Mir gefällt es, vom „Lernen im Lebenslauf“ zu sprechen, also eine biografische Linie des Lernens zu zeichnen. Dass das Lernen in den verschiedenen Lebensphasen und Altersstufen unterschiedlich verläuft, ist bekannt. Ich denke, es gibt keine andere Institution, die diesen Gedanken so wie die VHS mit ihrer Angebotspalette und ihren Beratungsleistungen genau aufgreift.

Welche Rolle wird Ihrer Meinung nach die VHS in Zukunft bei der Erwachsenenbildung einnehmen?
Die VHS wird nur dann einen hohen Stellenwert in der zukünftigen Erwachsenenbildung einnehmen, wenn es ihr gelingt, sich als Institution zukunftsfähig aufzustellen. Die Anforderungen an das Lernen in den nächsten 30 bis 40 Jahren werden sich ändern. Die gesellschaftlichen Megathemen „Integration“ und „Demografischer Wandel“ werden uns weiter begleiten. Für die Volkshochschulen bedeutet das eine weitere Ausdifferenzierung von Lernangeboten und anderen Bildungsdienstleistungen, um den individuellen Bildungsbedarfen Rechnung zu tragen. Auf jeden Fall muss die Bildungsberatung weiter ausgebaut werden, weil die Menschen zunehmend mehr Orientierung suchen. Das Lernen mittels Lernplattformen wird in einigen Jahren ganz selbstverständlich sein, oft auch in Ergänzung zum Präsenzunterricht. Letztendlich wird aber auch die VHS in einer Großstadt wie Frankfurt als kommunales Bildungs- und Begegnungszentrum auch noch im Jahr 2050 als realer Ort einen hohen Stellenwert haben.

Sie erwähnen die verschiedenen Bildungsbedarfe und die sich ändernden Anforderungen an das Lernen. Um dies alles bewältigen zu können – was würden Sie sich für das hessische beziehungsweise vom nationalen Bildungssystem wünschen?
Es gibt eine starke Diskrepanz zwischen der Erkenntnis, dass Lebenslanges Lernen und Weiterbildung für alle zu den wichtigsten Herausforderungen einer modernen Gesellschaft zählen und der Tatsache, dass Weiterbildung in dieser Republik wie auch gerade im Bundesland Hessen zu wenig im Gesamtbildungssystem verankert und vor allem völlig unterfinanziert ist. Hier müssen Bund und Länder ihre Verantwortung übernehmen und nicht alles auf die Kommunen schieben, wenn sie verhindern wollen, dass die Anzahl der Bildungsverlierer/innen weiter steigt.

Stopft die VHS Löcher, die anderswo entstehen?
Ja, das könnte man auf dem ersten Blick so wahrnehmen. Die VHS steht auch und gerade für nachholende Bildung wie Alphabetisierung und Grundbildung. Angesichts der ca. 68.000 betroffenen Menschen allein in Frankfurt ist das eine echte Herausforderung. Aber die VHS versteht sich nicht als Reparaturbetrieb, der gesellschaftliche Fehlentwicklungen kompensiert. Ebenfalls beansprucht sie auch nicht für sich, sämtliche gesellschaftlichen Probleme lösen zu können. Die VHS versteht sich vielmehr als Ort, an dem alle Menschen Wissen und Kompetenzen für ihre Teilhabe am beruflichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben erwerben können – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Alter und ihren Bildungsvoraussetzungen. Gemeinsam lernen lautet die Devise. Die einen haben Interesse an modernen Medien, die anderen möchten eine Sprache neu lernen oder interessieren sich für Gesundheits- und Umweltthemen.

Ist es also richtig, die VHS als einen Baustein im Gesamtgefüge der Bildungseinrichtungen zu betrachten?
In gewisser Weise schon. Die biografischen Lebensverläufe unserer Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer schärfen unseren Blick für all deren Lebens- und Lernphasen. Wir verstehen uns quasi als Gestalterin der Übergänge im Bildungslebenslauf. Deshalb kooperiert die VHS auch mit fast allen Bildungsbereichen. Sie bietet Fortbildungen für das pädagogische Fachpersonal, sie kooperiert mit Hochschulen, Schulen und Kitas. Und sie bietet Bildungsberatung an, die besonders von denjenigen angenommen wird, deren bisherige Bildungsbiografie Brüche aufweist und die eine Neuorientierung benötigen. In meiner Funktion als Vorstandsmitglied des Hessischen Volkshochschulverbands würde ich mir angesichts der Wahl im September die Aufnahme des Lebensbegleitenden Lernens als ein der Schulpolitik gleichberechtigtes Thema in der hessischen Bildungspolitik wünschen – selbstverständlich auch eine angemessene Finanzierung durch das Land Hessen.

Frau Çakir-Wahl, vielen Dank für das Interview.

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