Andreas Hock hat sich vorgenommen, einem breiten Publikum zu erklären, “warum unsere Sprache einen fortschreitenden Niedergang erleidet“. Dazu wählt er einen unterhaltsamen Plauderton, garniert seine Ausführungen mit einer Fülle von mehr oder weniger bekannten Anekdoten und Witzeleien, bedient sich vielfach der Zuspitzung und Vereinfachung von Sachverhalten. Das ist legitim, denn er will ja mit seiner Botschaft schließlich viele erreichen und nicht nur die, die es ohnehin schon wissen. Vergleicht man aber die Kern-Aussagen seines Buches mit dem Titel-Thema („Niedergang unserer Sprache“) muss man ihm zunächst leider attestieren: Thema verfehlt. Denn der Niedergang, den er beschreibt, handelt vom aktuellen Sprachgebrauch großer Teile der deutschsprechenden Bevölkerung, mit dem es in der Tat nicht zum Besten steht; dieser ist aber nicht identisch mit der Sprache. Dazu später mehr.
Hock wird aber mit seinen Ausführungen nicht nur bei vielen Professoren, Gymnasiallehrern und Feuilletonisten offene Türen einrennen, sondern auch bei den zahlreichen Zeitgenossen, die aus verschiedensten Gründen das Gefühl beschleicht, dass sich vieles zum Schlechten wandelt: da ist die Kultur des handgeschriebenen Briefs, die verloren ging, die Sprache der Politiker, die zwar reden, aber nichts sagen, die elektronische Post als Distanz-Medium zur Vermeidung des direkten Austausch, der Deutschunterricht mit dem falschen Curriculum, dass Goethe nicht nahebrachte und Bestseller (z. B. Karl May) ausschloss, die schier grenzenlose Phantasie einer wachsenden Elternschar, Kinder mit extravaganten Vornamen zu versehen usw. usf. Mehr als drei Dutzend solcher „Belege“ breitet Hock in kleineren Kapiteln aus, die jeweils mit dem Wörtchen „weil…“ einleiten und als Gründe für den „Niedergang“ herhalten sollen.
Was der Autor in der Gesamtschau vorlegt, ist ein Lamento über einen kulturellen Wandel, das in vielen Partikeln präsentiert wird, die irgendwie mit Sprache, Veränderungen im Sprechen miteinander und Benennen von Dingen oder Personen zu tun haben. Der implizite Gang der Argumentation ist dabei etwa so: Wenn so viele Anhaltspunkte für kulturellen Verfall zu beklagen sind, muss auch die Sprache dem Verfall preisgegeben sein, denn Sprache ist Kultur und Kultur drückt sich in Sprache aus. Insinuiert wird darüber hinaus, es habe historisch eine „Stunde-Null“ gegeben, in der die Welt des Deutschen noch im Lot war, ab der es aber aufgrund vieler vertaner Chancen nur noch bergab ging. Sprachwandel wird in den Schilderungen daher fast ausschließlich als Katastrophen-Szenario präsentiert.
Bei Andreas Hock ist also die Stimmung schlechter als die Lage, denn die ist so schlecht nicht, wie der „Erste Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ ausweist, der im Herbst 2013 von der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung veröffentlicht wurde. Keine Verarmung des Wortschatzes, kein Verfall der Grammatik, im Gegenteil: der Wortschatz des Deutschen wächst seit hundert Jahren in allen untersuchten Textsorten, die Grammatik zeigt sich robust gegenüber den Anglizismen, leichte Einbußen (Konjunktiv- und Kasusverwendung) werden einer Tendenz in allen großen Kultursprachen zugeschrieben. Die Sprache wird grammatikalisch einfacher, während sie Wörter hinzugewinnt. Untersucht wurde das „Standarddeutsche“, also geschriebene und redigierte Texte aus der Belletristik, aus Zeitungen sowie wissenschaftliche Prosa und Gebrauchstexte. Kritik am Lagebericht entzündete sich u.a. daran, dass man diejenigen Bereiche nicht in die Untersuchung einbezogen habe, in denen die größten Veränderungen im Sprachgebrauch zu verzeichnen seien: Emailverkehr, Internetblogs und eben leider auch nicht die gesprochene Sprache, die jeweils ein Eldorado für die Besichtigung von fehlerhaftem Deutsch abgeben. Das Ergebnis müsste also lauten: Nicht die Sprache wird schlechter, sondern ihre Sprecher und Schreiber.
Dass die Sprache und die Sprachverwendung in beschleunigter Form sich wandeln, ist ein breit in der Bevölkerung verankertes Gefühl. In einer Repräsentativumfrage des Instituts für Deutsche Sprache gaben 2009 ca. 84% der Befragten an, dass ihnen Veränderungen aufgefallen seien; zehn Jahre zuvor stellten 53% bei gleicher Fragestellung keine Veränderungen fest. „Es liegt im Wesen der Sprache, das sie sich verändert, dass ihre Entwicklung in keinem Augenblick stille steht“, stellt schon 1900 der Sprachwissenschaftler Otto Behaghel fest. Dies als Gegenstand für wissenschaftliche Untersuchungen zu nehmen ist das eine; von nicht wenigen werden diese Veränderungen aber als Verlust verbucht, weil Sprache eben auch einen wesentlichen Teil der kulturellen Identität darstellt.
Gründe für einen Aufschrei liefert die jüngste Vergangenheit wahrlich genug und der Autor führt sie auf: sei es die missratene Rechtschreibreform, die in Medien ostentativ zur Schau gestellte Unbildung in Gestalt einer Mischung aus Elementen eines Jugend-Slangs mit anscheinend als modisch empfundenen Abweichungen von der Grammatik, die grassierende Anglomanie in Marketing, Werbung und Wirtschaft, die Weltläufigkeit und Exzellenz suggerieren will, aber oftmals Mittelmaß nur notdürftig verdeckt und im Ergebnis als „Großsprech“ und eher peinlich daher kommt. Vielleicht braucht es vor diesem Hintergrund auch einen Weckruf à la Hock, der sich Übertreibungen gestattet.
Die Vielzahl der unverbunden nebeneinander aufgeführten Kalamitäten – oder was der Autor jeweils als solche anführt – hinterlässt allerdings auch ein schales Gefühl, denn oft genug scheint nicht das linguistische, oder besser: sprachschützende Interesse im Vordergrund zu stehen, sondern ein allgemeines Unbehagen an der Kulturentwicklung. Verstörend auch der durchgehend pessimistische Ton, der die Lektüre eben nicht nur „vergnüglich“ macht, wie der ehemalige Spiegelredakteur Karasek im Vorwort ankündigt. Dieser hat soeben seine humoristischen Qualitäten erneut unter Beweis gestellt, indem er in einem YouTube-Video ungerührt den IKEA-Katalog als ein Artefakt der Literatur bespricht. Als Ironiker und Witzbold bekannt ist er weit davon entfernt, ein Pessimist zu sein, muss sich aber verdruckst loyal als ein solcher im Vorwort bekennen, um sich von der pessimistischen Erwartung Hocks in Sachen Sprachwandel nicht distanzieren zu müssen. Der Linguist Peter Eisenberg gab letztens zu bedenken, ob man nicht die Sprachloyalität der Deutschen untergräbt und das Gegenteil des Gewünschten erzielt, wenn man die deutsche Sprache in Ihrer Robustheit im Wandel schlechter darstellt als sie ist.
Dennoch ist das von Hock geforderte Bemühen, den Reichtum der deutschen Sprache zu erhalten, vorbehaltlos zu unterstützen. Gemessen an der Verve eines Wolf Schneider in „Speak German“ von 2008 nimmt sich seine Aufforderung zum Schluss, sich der Liste der vom Vergessen bedrohten schönen deutschen Worte anzunehmen, doch eher bescheiden aus. Die von ihm diagnostizierte Lage müsste ein Mehr an kämpferischem Programm des Dagegenhaltens aufbieten. Oder hat er schon aufgegeben?
Fazit: der interessierte, aber nicht vorinformierte Leser wird eine Fülle von kurzweilig aufbereiteten Themen finden, die seinen Horizont erweitern. Der einschlägig versierte Leser wird linguistische Unterfütterung vermissen, die der Autor durchaus liefern könnte, weil er hier und da seine Kenntnis des Stands der Forschung durchblicken lässt. Der kritische Leser wird Hock ein paar Ungenauigkeiten übel nehmen, die aber hier keine Rolle spielen sollen.