Der in Oxford lehrende Migrationsökonom Paul Collier hatte die Regierung Merkel Anfang des Jahres heftig dafür kritisiert, in der Flüchtlingspolitik falsche Signale gesetzt zu haben. Menschen aus sicheren Drittstatten in großer Zahl die Türen zu öffnen, beschwöre die Gefahr herauf, dass sich mehrere hundert Millionen wanderungsbereiter Menschen auf den Weg machten; einmal in Bewegung gesetzt seien sie kaum mehr aufzuhalten. Collier, dessen Vorfahren selbst aus Deutschland emigrierten, hat in seinem 2014 erschienen Buch die Frage nach einer angemessenen Einwanderungspolitik versucht zu beantworten. Allgemeinverständlich geschrieben sollte dennoch ein breites Spektrum einschlägiger sozialwissenschaftlicher und moralphilosophischer Forschung aufbereitet und analysiert werden; dies ist ihm durchaus gelungen. Drei leitende Fragestellungen strukturieren die Darstellung: Was bestimmt die Entscheidung von Migranten? Wie wirkt sich die Migration auf die Zurückbleibenden aus? Welche Folgen hat die Migration für die Aufnahmegesellschaften?
In der Migrationspolitik, so Collier, werde zu oft über konkurrierende Werte debattiert, Meinungsverschiedenheiten über Werte seien aber oftmals unlösbar, und die Polarisierung der ethischen Debatte filtere lagerabhängig die Wahrnehmung von Argumenten und Fakten. Moralische Einstellungen zur Einwanderung seien wiederum auf verwirrende Weise mit Ansichten zu Armut, Rassismus und Nationalismus verknüpft. Dieses Knäuel möchte er auflösen. Einige seiner Voraussetzungen und Schlussfolgerungen sind ebenso denkwürdig wie vermutlich in Teilen auch Widerspruch auslösend: Aus der Ablehnung des Rassismus und der berechtigten Sorge über Armut folge nicht logisch das Recht, überall leben zu dürfen. Ob Migration gut oder schlecht ist, sei die falsche Frage, ihre intelligente Steuerung sei die eigentliche Herausforderung. Migration als eine unvermeidbare Seite der Globalisierung auszugeben, sei leere Rhetorik, die Mobilität von Waren, Kapital und Ideen stelle eine Alternative zur Mobilität von Menschen dar. Migration ist für den Autor in erster Linie kein ökonomisches, sondern ein soziales Phänomen; eine ehrliche Analyse müsse berücksichtigen, dass es stets Gewinner und Verlierer gebe.
Colliers Kernthese, dass die Aufnahmegesellschaften ein Recht auf Migrationsbeschränkungen haben, beruht auf sozialen und ökonomischen Gründen. Der ökonomische Grund für eine Obergrenze der Migration bestehe im zu erwartenden Druck auf die Löhne und einer Überbeanspruchung öffentlicher Güter, der soziale in der Steigerung der sozialen Vielfalt, die die gegenseitige Rücksichtnahme untergrabe. Grundlage der letzteren Behauptung ist ein aus den Ergebnissen zahlreicher wissenschaftlichen Untersuchungen gespeistes Modell, dass sehr verkürzt präsentiert etwa so funktioniert: Zugrunde liegt die Annahme, dass Einkommensunterschiede zwischen reichen und armen Gesellschaften auf unterschiedliche Sozialmodelle zurückzuführen sind. Sozialmodelle sind als die Kombination von Institutionen, Regeln, Normen und Organisationen eines Landes zu verstehen. Zwei entscheidenden Normen betreffen den Umgang mit Gewalt und die Fähigkeit zur Kooperation. Ein hohes Maß an Vertrauen hält die sozialen Kosten der gesellschaftlichen Kooperation niedrig. Gegenseitige Rücksichtnahme und Sympathie sind die Voraussetzungen dafür, dass etwa die Erfolgreichen bereit sind, die weniger Erfolgreichen mit Transferleistungen zu unterstützen; zugleich wird die Kooperation in der Bereitstellung öffentlicher Güter verstärkt. Studien zeigten, so Collier: Je mehr Einwanderer in einer Gemeinde leben, desto geringer werde das Vertrauen nicht nur zwischen den verschiedenen Gruppen, sondern auch innerhalb der Gruppen, insbesondere dann, wenn Einwanderer aus Ländern mit dysfunktionalen Sozialmodellen stammten und an diesen festhielten. Ein hoher Einwandereranteil führe zu einem geringeren gegenseitigen Vertrauen auch unter den einheimischen Mitgliedern der Gemeinde. Die grundlegende Bestimmungsgröße der Migrationspolitik solle daher nicht die Migrationsrate selbst sein, sondern das Ausmaß der Vielfalt.
Auch wenn es somit nicht darum gehe, ob Vielfalt gut oder schlecht sei, räumt der Autor ein, dass die Sozialforschung die Frage, welches Ausmaß an Vielfalt denn am besten sei, derzeit nicht annähernd beantworten könne. Man könne nun solche Überlegungen überhaupt als Panikmache zur Seite schieben oder als Anlass zur Vorsicht nehmen. „Bei Entscheidungen zum Thema Migration kollidieren begrenzte Daten mit starken Emotionen“, lautet sein ernüchterndes Zwischenfazit, was ihn allerdings umso mehr motiviert, aus den gesicherten Ergebnissen ein politisches Maßnahmenpaket anzuempfehlen. Neben der bereits erwähnten Obergrenze zählen dazu eine effektive Integration, um die „Absorptionsrate der Auslandsgemeinde“ zu erhöhen, eine Auswahl von Migranten nach Kriterien (Haushaltsstatus, Arbeitsmarktfähigkeit, Qualifikation, kulturelle Herkunft und Schutzbedürftigkeit) sowie die Legalisierung illegaler Einwanderung. Der Charme der Argumentation Colliers besteht darin, dass er die Interdependenz der Handlungen der o. g. Akteure (Aufnahmeländer, Migranten, Zurückgebliebene) zu einem Gesamtbild ordnet. Die Beschränkung des Zugangs seitens der Aufnahmeländer geschieht eben nicht nur aus Eigeninteresse, sondern auch aus Fürsorge, denn die Bedürftigsten sind die in den Herkunftsländern Zurückbleibenden. Eine Obergrenze kann durchaus mit einer hohen Migrationsrate einhergehen, die wiederum von der Absorptionsrate anhängig ist; hier gilt: je weiter der kulturelle Abstand, desto kleiner die Absorptionsrate. Um diese zu steigern, gehören zu einer angemessenen Integrationspolitik Maßnahmen, die den Rassismus und die Diskriminierung in der einheimischen Bevölkerung bekämpfen.
Ein Satz des 2014 veröffentlichten Buches sagt die ein Jahr später in Deutschland eintretende Verwerfung der Parteienlandschaft – invers gelesen – voraus: „Tatsächlich glaube ich, dass die Politiker der Mitte, indem sie effektive Präventivmaßnahmen ergreifen, den extremen Parteien ihre Anziehungskraft nehmen und eine Situation verhindern können, in der sie weiter zunehmen würde.“ Es täte der Debatte in der deutschen Parteienlandschaft gut, wenn wissenschaftliche Expertisen wie die Colliers die Auseinandersetzung um die Einwanderung künftig stärker fundierte. Mit rationaler Argumentation sind zwar nicht die xenophoben Wähler zu erreichen, die den Populisten Zulauf verschaffen. Aber bei dem Kampf um die Erhaltung der offenen Gesellschaft dürfen die die Verfassungsordnung verteidigenden Kräfte nicht zulassen, dass Stichworte und Positionen zur Einwanderung nicht geäußert werden, weil das Thema durch die extreme Rechte mit Rassismus verknüpft und aufgrund der dadurch einsetzenden Tabuisierung dem Diskurs der Mitte entzogen wird. Die letzte Afrika-Reise der Bundeskanzlerin hat erneut deutlich gemacht, dass die massenhafte Einwanderung nach Europa dort als finanzielle Chance und Entlastung begriffen wird. Auf dem Gipfeltreffen der Europäischen Union und zahlreichen afrikanischen Nationen 2015 auf Malta verteidigten diese die Auswanderung nach Europa als Grundrecht.
Der kosmopolitisch sozialisierte und in einem multi-nationalen Familienverband lebende Autor kritisiert ferner die Idee, die westlichen Gesellschaften sollten sich auf eine postnationale Zukunft vorbereiten und hebt den Wert einer nationalen Identität hervor; sie solle nicht durch Rassisten in Beschlag genommen werden können. Ein gemeinschaftliches Nationalgefühl müsse nicht mit Aggressivität verbunden sein, sondern könne ein praktisches Mittel sein, Brüderlichkeit zu schaffen, denn öffentliche Güter würden überwiegend auf nationaler Ebene bereitgestellt, eben weil sich Nationen als machtvolle Einheiten mit kollektiver Identität erwiesen hätten. Wohltätigkeit beginne nicht zu Hause, sondern im Finanzministerium, denn der Staat sei massiv am Transfer von Ressourcen zwischen Eltern und Kindern beteiligt, etwa durch staatlich finanzierte und verordnete Bildung. Die Wertschätzung des Nationalen ist hierzulande längst nicht mehr nur einem fest umrissenen politischen Spektrum zuzuordnen, wie jüngste Feuilleton-Beiträge dieses Jahres – etwa des Ex-Außenministers Fischer, der Linken-Politikerin Wagenknecht und des Philosophen Sloterdijk – zeigen.
Paul Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen.
Siedler Verlag, 22,99€, ISBN: 978-3-88680-940-0
Red.: Bernd Eckhardt